Kern der Automatisierung "Maschine kann interessanterweise auch List bedeuten"

Von Karin Pfeiffer

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Das Thema Automatisierung ist bekanntlich komplex – und scheint für viele nicht wirklich greifbar. Vielleicht, weil darin der Fortschritt der Jahrtausende steckt? Lenze-CTO Frank Maier über das Wesen der Automatisierung, neue Technologien und welche zwei Handlungsstränge in die Zukunft führen könnten.

Lenze-CTO Frank Maier: „Die klassische PLC  ist aus softwaretechnologischer Sicht Steinzeit, bestenfalls Bronzezeit."
Lenze-CTO Frank Maier: „Die klassische PLC ist aus softwaretechnologischer Sicht Steinzeit, bestenfalls Bronzezeit."
(Bild: Lenze)

Was macht für Sie den Kern, das Wesen der Automatisierung aus?

Frank Maier: Der Begriff Automatisierung kommt aus dem altgriechischen „αὐτόματος, automatos“ und das bedeutet „sich selbst bewegend“. Das Deutsche Institut für Normung e.V. definiert in der DIN V 19233 Automatisierung als „das Ausrüsten einer Einrichtung, sodass sie ganz oder teilweise ohne Mitwirkung des Menschen bestimmungsgemäß arbeitet“. Übersetzt heißt das: Automatisierung beinhaltet eine Bewegungsfunktion und eine Intelligenzfunktion, die in der Kombination Handlungen des Menschen ersetzen.

Und technisch ausgedrückt?

Frank Maier: Technisch ausgedrückt ist das ein Antrieb und eine Steuerung mit der zugehörigen Software.

Das klingt relativ wertfrei?

Frank Maier: Bis hierhin ist dieser Begriff in seiner Bewertung neutral, es steckt nicht darin, ob die Mitwirkung des Menschen gleichwertig, besser oder schlechter ersetzt wird. Das ändert sich mit dem Begriff „Industrie“, der auf das lateinische „industrius“ zurückgeht, was „fleißig, regsam, beharrlich“ bedeutet. Industrielle Automatisierung beinhaltet also ein Leistungsmerkmal in Bezug auf Menge (fleißig) und Wiederholbarkeit (beharrlich).

Der Kern der Automatisierung lässt sich also aus alten Sprachen ableiten?

Frank Maier: Die Etymologie beschreibt aus meiner Sicht das Wesen der industriellen Automatisierung sehr schön. Industrielle Automatisierung hat den Anspruch, die Leistungsfähigkeit des Menschen, also die „Manufaktur“ (wieder aus dem Lateinischen von manu facere = von Hand zu tun), zu übertreffen – mehr Stück pro Zeit, höhere Präzision. Sie tut dies eingebettet in eine Maschine. Altgriechisch „μηχανή, mēchanḗ“, das Werkzeug, die Vorrichtung, kann interessanterweise aber auch Kunstgriff oder List bedeuten.

Das ist natürlich ein Kontinuum. Wir arbeiten seit Jahrzehnten konsequent und erfolgreich daran, den Abstand der Leistungsfähigkeit zwischen automatisierten (maschinellen) und manuellen (menschlichen) Lösungen zu vergrößern.

Aus der Fachrichtung hin zur großen Querschnittsaufgabe: Was macht einen Komponentenhersteller bzw. Spartenanbieter wie Sie eigentlich zum Automatisierungsspezialisten?

Frank Maier: Ich würde uns an dieser Stelle anders positionieren: Lenze war schon immer ein Automatisierer. „Automatos“, sich selbst bewegend, machen wir schließlich seit nahezu 75 Jahren, spätestens seit der Einführung des Alquist-Wicklers im Jahre 1950. Die Konversion von elektrischer in mechanische Energie, die Bewegung und Bewegungsführung waren, sind und bleiben elementare Bestandteile einer Automatisierungslösung. Zu Beginn gab es noch kein wirkliches „Gehirn“, die Synchronisierung der Achsen erfolgte mechanisch – denken Sie an die Königswelle. Und Abläufe wurden über Relais oder Klick-klack-Technik gesteuert. Bis in die 70er, ja die 80er Jahre, wurde die Maschine über die Bewegung, also von der Achse ausgehend, konzipiert.

Und wann kam die Intelligenz dazu?

Frank Maier: Mit der Entwicklung der SPS kam dann in den 70er Jahren Intelligenz in die Maschine. Es kam also das „Gehirn“ hinzu, welches, getrieben von Moore’s Law, immer leistungsfähiger wurde. Es wurde eine Feldbustechnik geschaffen, die wie ein Nervensystem den Antrieb (=Muskel) mit dem Gehirn (=Steuerung) verbindet, womit wir bei der oben erwähnten Definition der DIN V19233 angekommen wären.

Was waren die Treiberthemen für diese Entwicklung bei Ihnen?

Frank Maier: Mit dem lawinenartigen Anstieg der Rechenleistung wuchs die Bedeutung der Steuerung für die Maschine immer weiter. Die Maschine wurde nicht mehr von der Achse, sondern von der Steuerung her definiert und in seiner Topologie bestimmt. Mit der Einführung der Real Time (RT) Ethernet Busse bei gleichzeitig hoher verfügbarer Rechenleistung, ließen sich plötzlich sehr zentrale Architekturen realisieren und damit wurde dieser Trend dominant.

Das ist der Hauptgrund, warum Lenze sich Anfang des Jahrtausends entschloss, die Steuerungstechnik gleichfalls zu adressieren. Wir haben uns immer als Lösungsanbieter verstanden und wenn die Lösungen nicht mehr von der Achse, sondern von der Steuerung aus definiert werden, ist das ein natürlicher und notwendiger Schritt.

Welche unternehmerische und technologische (Neu-)Ausrichtung war dafür erforderlich?

Frank Maier: Das klingt alles sehr einfach, aber natürlich war dieser Schritt in der Implementierung eine echte Herausforderung. Schließlich galt es, die notwendigen Kompetenzen aufzubauen: einmal in der Technik, also hin zu Software, Software-Architekturen und moderner Software-Entwicklungsmethodik. Aber auch in der Applikation, nämlich dem Schritt von der Achse hin zu Steuerungsarchitekturen. Wir haben dafür über zwei Jahrzehnte lang massiv investiert, unsere Software-Ressourcen vervielfacht, beispielsweise ein Entwicklungszentrum in Indien aufgebaut, agile Entwicklungsprozesse eingeführt, und die Vertriebs- und Applikationsmannschaft verstärkt, Mitarbeiter und Management.

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Spiegelt sich der Kompetenzaufbau in bestimmten Produkten wider?

Frank Maier: Natürlich mussten wir ein Portfolio Steuerungstechnik aufbauen und dieses mit unserer Stärke, nämlich unserem antriebstechnischen Baukasten durchgängig verbinden. Ich betrachte die konsequente Modularisierung (oder besser gesagt, Objektorientierung) unserer Software in die Lenze-FAST-Bausteine sowie die Einführung unserer Steuerungsfamilie c550/c750 und des Servo-Umrichters i950, die auf der gleichen Hardware- und vor allem der gleichen Software-Plattform aufbauen und diese Bausteine durchgängig nutzen können, quasi als Endpunkt dieser Phase der Aufbauarbeit.

Welche Technologien prägen Ihrer Ansicht nach das Thema Automatisierung in Zukunft? Und warum?

Frank Maier: Uns beschäftigen an dieser Stelle zwei wesentliche Handlungsstränge: Der erste Handlungsstrang ist die Fähigkeit der Maschine, ohne jegliche Mitwirkung des Menschen, bestimmungsgemäß zu arbeiten. Diese muss weiter ausgebaut werden. Die Möglichkeiten dehnen sich dabei immer weiter aus: vom ursprünglichen Ersatz der menschlichen Bewegung hin zum Denken, zum maschinellen Entscheiden bis hin zum maschinellen Lernen. Das Stichwort lautet: Künstliche Intelligenz.

Damit liegt der Schlüssel für die Zukunft in der Software. Hier kann und muss der Maschinenbau noch viel lernen.

Was kann und muss der Maschinenbau denn noch lernen?

Frank Maier: Die klassische PLC mit der Programmiersprache nach IEC 61131 ist aus softwaretechnologischer Sicht Steinzeit, bestenfalls Bronzezeit. Es ist kaum vorstellbar, Methoden der Künstlichen Intelligenz, beispielsweise neuronale Netze, strikt auf einer PLC zu programmieren. Stattdessen sind objektorientierte Hochsprachen, komponentenbasierte Architekturen, Low-Code und appbasierte Technologien Voraussetzung dafür, den technologisch möglichen Fortschritt mit den verfügbaren Ressourcen bewältigen zu können. Dabei dürfen wir das Real-Time-System natürlich nicht vergessen, auf das die klassische PLC ausgerichtet war.

Wenn die klassische PLC Steinzeit ist, welche Technologie führt in die Zukunft?

Frank Maier: Zusammengefasst und plakativer ausgedrückt: Wir brauchen einen Quantensprung in der Produktivität der Software-Entwicklung. Denn steigender Software-Aufwand trifft – bedingt durch die Demographie – auf immer weniger Ressourcen.

Das klingt noch nach einigen Haken und Hürden?

Frank Maier: Wir müssen uns von dem Gedanken lösen, dass mehr Software auch beliebig viel Rechenleistung erfordern darf, weil sich die ja alle zwei Jahre kostenneutral verdoppelt. Wenn Sie bedenken, dass der Apple A14 bei TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company, Limited) heute auf einem 5 nm Prozessor gefertigt wird, dann kommt man schon ins Grübeln. Der Van-der-Waals-Radius (beschreibt den Abstand von Atomen in kristallinem Material) von Silizium ist 200 pm. 5 nm sind 12 Silizium-Atome nebeneinander aufgereiht, in Worten zwölf!

Strategien wie „More than Moore“ und „Beyond CMOS“ in der Halbleiterindustrie setzen dieses Prinzip zwar weiter fort, man setzt dabei aber auf neue Materialien und geht in die 3. Dimension über gestapelte Chips. Ich bin nicht vollständig davon überzeugt, dass dies mit konstanten Kosten funktioniert.

Gibt es Ansätze, Herausforderungen in puncto Rechenleistung zu lösen?

Frank Maier: Wir werden in der Automatisierung über verteilte Systeme nachdenken müssen, weil die Konzentration der Rechenleistung an einem Punkt an ihre Grenzen stößt. Genau in die Richtung sind wir über das Thema Industrie 4.0 schon unterwegs.

Aber, und da bleiben wir als Lenze unserem Erbe „automatos“ unbedingt treu: Solange Sie physische Güter verändern oder von A nach B bewegen, brauchen Sie einen Antrieb.

Damit bleibt Ihr angestammtes Komponenten-Know-how beim Thema Automatisierung also wichtig?

Frank Maier: Der 2. Handlungsstrang beschäftigt sich daher weiterhin auch mit der Antriebstechnik. Hier stehen aus meiner Sicht das Dauerthema Kosteneffizienz, aber zunehmend auch das Thema Nachhaltigkeit im Vordergrund. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit spielen hocheffiziente Antriebe eine enorm wichtige Rolle. Und dort wollen und werden wir als Lenze weiter unseren Beitrag leisten.

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